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AutorenbildJeanette Ghyczy

Tati

Berlin im Juni 2020 | Eine Erinnerung |


In diesem Sommer sind die Krähen eindeutig in der Überzahl. Angefangen hatte es schon im Frühjahr, dass sie sich laut krächzend bandenweise auf den umliegenden Dächern und Baumkronen versammelten, um dann ihre Raubzüge zu starten. Mittlerweile hört man sie den ganzen Tag über, nicht nur hinten im Garten, sondern auch im Park. Sie durch lautes Klatschen oder andere Geräusche zu vertreiben, hat schon lange keinen Zweck mehr. Es sind einfach zu viele geworden. Zugegebenermaßen ist mir die Art und Weise, wie sie scharenweise in Erscheinung treten, einfach unangenehm. Sie haben etwas Unheilvolles. An die Vogeltränke im Garten gehen sie aber interessanterweise nicht. Seit die Krähen da sind, sehe ich außer ein paar Spatzen und Kohlmeisen kaum noch einen der sonstigen Vogelbewohner. Ich vermisse sie regelrecht. Es hatte beinahe etwas Familiäres, wie die Amsel- und Drosselpaare, die zwei Ringeltauben, das exotische Eichelhäher-Pärchen und die anderen Kleinvögel sich den Garten untereinander aufteilten. Man nahm Rücksicht, ließ den Großen den Vortritt beim Baden und wartete geduldig bis man an der Reihe war. Seit die Krähengeschwader über die Dächer fegen, sich wie Kampfjets abrupt seitlich abfallen lassen und in die Bäume rauschen, ist es vorbei mit der kleinen Beschaulichkeit in unserem Garten. Ich finde das äußerst schade und bin sogar verärgert über die Krähen.

Andererseits fällt mir dann wieder Tati ein. Tati war ein kleiner Krähenvogel, den mein damaliger Freund und ich gerettet und groß gezogen haben. Das war im Sommer vor genau 15 Jahren. Gefunden hatte ihn eigentlich meine Hündin Ninja. Bei einem Spaziergang am Ufer des Spreekanals blieb sie plötzlich winselnd vor einem Gebüsch stehen, sah uns an und deutete mit ihrer Schnauze immer wieder in eine Richtung. Sie selbst machte keine Anstalten dort hinein zu gehen. Als wir näher traten, sahen wir, worauf sie uns aufmerksam machen wollte. Eine junge Krähe hockte am Boden. Mein Freund hatte in seiner Jugend schon einige Vögel gerettet. Mit einem gekonnten Griff nahm er den Vogel und untersuchte ihn. Verletzt war er offensichtlich nicht. Als er ihn jedoch in die Luft warf, wurde sein Problem deutlich. Er konnte nicht fliegen. Würden wir ihn am Boden in diesem Gebüsch lassen, wäre sein nahes Ende mehr als vorprogrammiert. Also nahmen wir den Vogel mit. Er ließ es geschehen.

Zu Hause angekommen, wurde ein glücklicherweise noch vorhandener Käfig vom Dachboden geholt, mit Zeitungspapier ausgelegt, die kleine Trinkschale mit Wasser gefüllt und in einer Zoohandlung Futter besorgt. Wir waren zufrieden mit unserem auf die Schnelle zusammengestellten Setting. Nur der Vogel nicht. Er machte Tag und Nacht Rabatz. Krächzte herum, hüpfte wild in dem Käfig umher, fraß nicht und war ganz offensichtlich überhaupt nicht einverstanden mit seiner aktuellen Situation. Nach zwei Tagen waren wir alle mit den Nerven am Ende. Also gut, dachten wir, bringen wir ihn dorthin zurück, wo wir ihn gefunden haben. Wir packten ihn in eine Kartonkiste und stiegen ins Auto. Auf dem Weg zur Fundstelle rumpelte der Karton auf meinem Schoß dermaßen hin und her, dass ich Mühe hatte, ihn festzuhalten. Es hat nicht viel gefehlt, dass der Vogel die gesamte Kiste auseinander genommen hätte. An der Stelle angekommen, nahm mein Freund ihn aus der Kiste und sagte: So mein Lieber, das hier ist deine Alternative. Daraufhin warf er ihn mit einem kräftigen Schwung nach oben. Der Vogel flog in die Höhe, breitete links und rechts die Flügel aus und landete geradewegs wieder vor unseren Füßen. Das Ganze wiederholte sich noch zweimal, doch jedesmal segelte er ohne Erfolg wieder zu Boden. Kleinlaut und verdattert saß er nun da. Meine Hündin schnupperte liebevoll an ihm. Es kam kein Mucks mehr. Wir packten den Vogel wieder ein, brachten in ihn nach Hause, setzten ihn in den Käfig und siehe da: auch dort war Ruhe. Uns war nun klar, dass er eine Weile bei uns bleiben würde. Also brauchte der Vogel einen Namen. Wir tauften ihn Tati, weil da schon schon absehbar war, dass wir es mit einem kleinen Komiker zu tun hatten.

Tati richtete sich in seinem Käfig ein und wusste uns zu beschäftigen. Er nahm sich entsprechend wichtig, schließlich waren wir jetzt seine Eltern. Jedes Mal wenn einer von uns am Käfig vorbei kam, sperrte Tati seinen Schnabel auf. Ohne Laut. Die Botschaft war eindeutig. Hunger! Dankbar fraß er die lebendigen Regenwürmer und Insekten, die wir ihm mit einer Pinzette in den Käfig reichten, und die nun in Plastikschalen gestapelt neben unserer Butter im Kühlschrank standen. Ein wenig gewöhnungsbedürftig fand ich das zwar schon, aber es funktionierte. Ich tat also besser daran, meinen Ekel zu unterdrücken. Tati verspeiste viel, wurde größer, kam ordentlich zu Kräften und war sehr neugierig. Hin und wieder ließen wir ihn in der Wohnung für kurze Zeit aus dem Käfig. Fliegen konnte er noch immer nicht. Dafür sprang er aber überall herum, beobachtete sehr genau, was wir taten und lernte schnell. Zum Beispiel, dass man Schnürsenkel beim Schuhe anziehen mit dem Schnabel wieder aufmachen konnte. Band man sie erneut, war er mit einem Satz zur Stelle, zog daran, hüpfte im Kreis und freute sich wie ein Schneekönig.

Noch im Nachhinein bewundere ich meine Hündin, wie rücksichtsvoll sie sich damals diesem kleinen, frechen Witzbold gegenüber verhielt. Einmal hatte sich Tati in ihren Nacken gesetzt und pickte vergnüglich auf ihrem Kopf herum. Es wäre für sie ein Leichtes gewesen, ihn in seine Schranken zu weisen und mehr noch, einfach nach ihm zu schnappen. Stattdessen schaute sie nur dezent genervt und ertrug seine Eskapaden mit einer Engelsgeduld. Der kleine Vogel genoß eindeutig Welpenschutz.

Nach acht Wochen war es dann soweit. Tati hatte mittlerweile im Wohnzimmer fliegen gelernt und wir wussten, es war an der Zeit, ihn endlich in die Freiheit zu entlassen. Eines Tages saßen wir auf meinem Balkon und öffneten die Tür seines Käfigs. Vorsichtig kam er heraus, hüpfte nochmals kurz zu uns, wie um sich zu verabschieden, sprang dann auf einen der Blumenkästen, breitete seine Flügel aus und flog davon. Weg war er. Eine Weile ließen wir den Käfig noch mit offener Tür auf dem Balkon stehen, für den Fall, dass er hin und wieder zurück kommen möchte. Aber er kam nicht. Wir haben Tati nicht wieder gesehen. Manchmal bildete ich mir ein, er würde vielleicht in dem Baum vor unserem Fenster sitzen, um auf diese Weise noch in unserer Nähe zu sein. Aber wahrscheinlich war das nur eine typisch menschliche Vorstellung meinerseits. Tiere funktionieren eben ganz anders. Jedenfalls habe ich einige Zeit gebraucht, mich daran zu gewöhnen, dass Tati nicht mehr da war. Ich hatte mich doch sehr an diesen unterhaltsamen Krähenvogel gewöhnt. Er fehlte mir.

Nun sitze ich hier und bin von seinen Artgenossen genervt. Dabei muss mir doch immer wieder sagen: Es ist die Natur. Sie folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Nichts bleibt, wie es war. Alles ist Veränderung. Diesen Sommer sind es die Krähen. Wer weiß, was nächstes Jahr ist. Gerade habe ich mich gefragt, ob ich heute wieder eine Krähe retten würde. Die Antwort ist eindeutig: ja.


Berlin | Juni 2020

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