Vom Unsichtbaren ins Sichtbare - Ein Gespräch mit der Keramik Künstlerin
Bei der ersten Begegnung mit Alice über gemeinsame Bekannte, fiel mir an dieser groß gewachsenen Frau mit Kurzhaarschnitt, ihr wunderschönes Kleid auf, zu dem sie damals Cowboy Stiefel trug. Und auch bei unserem zweiten Treffen, war sie wieder in einem beneidenswert gutaussehenden Vintage-Kleid aus Paris unterwegs, wie sie mir auf Nachfrage verriet. Es würde Alice Kammerlander aber keinesfalls gerecht werden, sie auf ihre Kleider zu reduzieren. Denn mindestens genauso bemerkenswert ist ihre Kunst und die Fähigkeit, über die essenziellen Dinge des Lebens präzise und unaufgeregt zu sprechen. Alice ist Künstlerin, durch und durch. Und sie traut sich was. Ihre Keramik-Skulpturen haben es in sich. Das versteht man jedoch meist erst auf den zweiten Blick. In jedem Fall hat sie etwas zu sagen, weshalb es mir ein Anliegen ist, Alice Kammerlander hier bei SALON DE GICZ vorzustellen. Wir haben uns an einem heißen Sommertag in Wien zum gemeinsamen Mittagessen getroffen und über zahlreiche Themen des Lebens, ihren Werdegang und natürlich über ihre Kunst gesprochen.
Im Vorfeld zu unserem Treffen ist mir aufgefallen, dass es im Internet zu ihrem Namen zwar etliche Treffer gibt, aber wenig wirkliche Informationen zu ihrer Person. Noch nicht! Denn so richtig los mit „der Kunst“ ging es bei ihr auf Grund verschiedener Lebensumstände erst vor vier Jahren, auch wenn sie schon seit 2006 als Keramikkünstlerin tätig ist. Um ihr Atelier zu finanzieren hat sie Kurse gegeben, Auftragsarbeiten gemacht und immer schon viel gearbeitet. Erst durch Corona wurde ihr klar, was sie will bzw. nicht mehr will, vor allem in Bezug auf ihre Arbeit. Sie wollte Künstlerin sein! Und zwar richtig, zu 100 Prozent. Und so hat Alice begonnen, sich selbst als Künstlerin zu visualisieren. Seither haben sich bereits diverse Ausstellungsmöglichkeiten ergeben. Es geschah ganz von selbst, sagt sie und wirkt dabei nicht einmal verwundert. Eine Folge von Ursache und Wirkung. So ließe es sich wohl erklären. Für Alice Kammerlander ist das erst der Anfang.
Das Streben nach Anerkennung war aber immer schon da. Doch ist sie nicht jemand, der sich in den Vordergrund drängt. „Strategisch“ auf Vernissagen und Künstlerpartys herumstehen, in der Hoffnung, dort mit den richtigen Leuten ins Gespräch zu kommen, ist ihre Sache nicht. Vielmehr ist sie die Art von Künstlerin, die sich in ihrem Atelier einschließt, um dort zu arbeiten und den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Das sei schon an der „Angewandten“ so gewesen, sagt sie rückblickend. „Die Angewandte“ ist die Universität für angewandte Kunst in Wien, wo sie von 1998 – 2005 ihr Studium absolvierte. Anfänglich liebäugelte sie mit der Malerei, traute sich damals jedoch nicht zu, damit weiter zu machen. Stattdessen richtete sich ihr Augenmerk auf die klassische Keramik und Produktgestaltung. Das wiederum war ihr bald zu wenig. Ein Jahr in London mit einem Stipendium an der Guildhall University brachte sie dem näher, was sie eigentlich suchte. Dort konnte sie sich ausprobieren und bekam Zugang zu völlig anderen künstlerischen Ansätzen. Zurück in Wien wurde ihre alte Klasse aufgeteilt – in Produktgestaltung und Bildende Kunst. Unnötig zu erwähnen, dass sie sich für Letzteres entschied. In der Meisterklasse von Otto Lorentz hat sie damals alles gelernt, was im Umgang mit dem großen Begriff Keramik nötig ist. Etwas, was sie heute nicht missen möchte, weil es ihr die Möglichkeit gibt, mit Formen, Farben und dem Material zu spielen. Ohne Pflicht, keine Kür. Aber darauf kommen wir später noch einmal zurück.
Die Malerei begleitet sie allerdings bis heute. Das Zwei- und das Dreidimensionale, diese Kombination findet sie geradezu ideal, weil es das ausdrücke, was sie sagen möchte. Mal funktioniert das eine, mal das andere besser, sagt sie, je nachdem, wo sie gerade im Leben stehe. Im Oktober dieses Jahres wird sie erstmalig beides zusammen in einer Einzelausstellung im Schlumberger Art Floor in Wien* unter dem Titel: „Das, was du siehst, ist nicht das, was ich fühle“ ausstellen, berichtet sie voller Begeisterung.
„Die Keramik ist etwas Heilsames, das Arbeiten mit dem Ton hat etwas Therapeutisches.“
Wie sie überhaupt dazu gekommen ist, Kunst zu machen, möchte ich natürlich von ihr wissen. Sie überlegt und antwortete dann: Im Endeffekt sei es aus einer Verzweiflung heraus entstanden. Aufgewachsen in einem streng katholischen, konservativen Elternhaus war für sie als heranwachsendes Mädchen die Rolle der Hausfrau als einziges Zukunftsszenario vorgesehen. „Die Option einer Karriere gab es nicht“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie Medizin zu studiert. Die Heirat mit ihrem Mann, Otto Kammerlander, war ihre Rettung und die einzige Möglichkeit aus dem festen Gefüge des elterlichen Zuhauses auszubrechen. „Zum Glück war es Otto“, sagt sie und lacht. „Wir waren ja eigentlich noch Kinder.“ Aus dem jungen Paar sind Erwachsene geworden, die gemeinsam wachsen und sich gegenseitig unterstützen. Besser hätte es nicht kommen können.
Eine Therapie, ihr Studium, die glückliche Ehe, die gemeinsamen Kinder und die Beschäftigung mit Philosophie haben Alice Kammerlander geholfen sich selbst zu finden, ihr Leben als Künstlerin zu definieren und aus dem Zustand des Unsichtbaren herauszukommen, wie sie ihre Kindheit und Jugend beschreibt. „Die Keramik ist etwas Heilsames, das Arbeiten mit dem Ton hat etwas Therapeutisches.“
Wie kommst du zu deinen Ideen? Was ist deine Arbeitsweise? wollte ich von ihr wissen. „Mein Tag beginnt eigentlich so, dass ich mich irgendwo hinsetze, nicht im Atelier und nicht zu Hause, entweder lese ich einen Text oder es sind Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, dann fange ich an zu schreiben und versuche es irgendwie zu sortieren. Ich zeichne sehr viel, meistens frei, fange mit Übungen an, dann entstehen irgendwelche Sachen, das passt meistens alles zusammen, auf die eine oder andere Art. Anschließend gehe ich ins Atelier und habe diese Idee vor mir, setze mich an die Töpferscheibe und bereite den Ton vor. Das dauert auch immer ein bisschen… und wenn ich beginne zu drehen, entstehen die Dinge, mehr oder weniger von selbst. Oft kommt etwas vollkommen anderes heraus. Es ist ein Prozess, die Farben müssen angemischt werden, manches Mal muss ich am nächsten Tag weitermachen, weil nicht immer alles gleichzeitig gemacht werden kann.“
Es geht bei Alice immer um die richtige Balance, beim Material, bei den Themen, aber auch beim Zugang zur Kunst. Ihr eigenes, persönliches Leben und Erleben sind zwar der Ausgangspunkt, aber ihre Skulpturen und Objekte sind das Ergebnis vieler Einflüsse, Ereignisse und Beobachtungen, wie sie sagt. Spektrum der Wissenschaften, die Natur, ihr Umfeld, die Eltern, Ahnen, die Beschäftigung mit der Psyche, der Ursprung von Krankheiten, als Folge von Erlebtem und möglicherweise nicht Verarbeitetem, der Körper überhaupt und die Biologie sind für sie unerschöpfliche Quellen. Zu ihrem derzeitigen Lieblingsbuch zählt Alles fühlt von Andreas Weber, wie sie mir verrät, worin der Biologe und Philosoph ausführlich beschreibt, wie er die Welt wahrnimmt.
Das Lesen, Nachdenken und Philosophieren sind für Alice genauso wichtig, wie die physische Arbeit im Atelier. Das jedoch musste sie im Laufe ihres Künstlerdaseins erst lernen. Es fiel ihr schwer, sich Zeit zu nehmen, weil die Aneignung von Wissen zunächst nichts Sichtbares hervorbringt, wobei wir interessanterweise wieder bei ihrem Grundthema sind. Früher sei sie wie eine Arbeitsmaschine gewesen, resümiert sie über sich selbst. Das ist heute viel besser. Allerdings hat sie zu Hause auch eine Familie mit drei Kindern und einen Alltag zu bewältigen. „Wenn ich im Atelier bin, will ich meine Zeit also auch optimal nutzen.“
„Für mich ist ein Riesenvorteil, dass ich weiß, wie man Teller, Vasen, Schüsseln und das alles macht, wie es funktioniert. Ich baue das auch in meine Objekte ein und kann es umsetzen, so wie ich es brauche, kann die Formen brechen und etwas Neues daraus machen. Es ist die entscheidende Basis für alles."
Den Spagat zwischen Beruf(ung) und Familie zu bewältigen, hat sie mit vielen Müttern gemeinsam. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie erst jetzt so richtig durchstarten kann. Der Zeitpunkt ist allerdings gut gewählt. Keramik in der Kunst boomt. Auf die Frage, was sie jungen Studierenden oder auch älteren Künstlern heutzutage raten würde, ist ihre Antwort eindeutig: Sich erst einmal mit dem Material zu beschäftigen, um zu verstehen, was das eigentlich ist, und wie es funktioniert. Künstlerisch viel auszuprobieren, bevor man mit dem, was man da tut, herausgeht. Es gäbe mittlerweile viele Künstler, die eigentlich Maler sind, und jetzt „auch irgendwas mit Keramik machen“. Das habe aber keinesfalls mit Keramik im klassischen Sinne zu tun.
„Für mich ist ein Riesenvorteil, dass ich weiß, wie man Teller, Vasen, Schüsseln und das alles macht, wie es funktioniert. Ich baue das auch in meine Objekte ein und kann es umsetzen, so wie ich es brauche, kann die Formen brechen und etwas Neues daraus machen. Es ist die entscheidende Basis für alles“, betont Alice. „Es war mir immer wichtig, die ganze Grundstruktur zu beherrschen. Ich wollte wissen, wie man modelliert, Aktzeichnen können, usw. Die ganze klassische Ausbildung eben. Ich wollte eine starke Basis, und das merke ich heute. Ich finde, das ist eigentlich das Allerwichtigste und das, was man jungen Menschen mit auf den Weg geben kann und sollte.“
Ein entscheidender Wendepunkt in ihrer Arbeit kam vor einigen Jahren, als sie das Material Porzellan für sich entdeckte. Eigentlich hatte sie etwas ganz Bestimmtes im Kopf gehabt, aber während sie versuchte es umzusetzen, kam plötzlich etwas anderes heraus. So entstanden ihre ersten „Porzellan-Blumen“. Beim näheren Betrachten kam ihr „Die Blume des Lebens“ in den Sinn. Wie sie sich entfaltet, welches Potential sie entwickelt. Ohne, dass es geplant gewesen wäre, hatte sich ihr ein Thema offenbart. Eine befreundete Kunsthistorikerin gab ihr den wertvollen Hinweis, sich mit dem Thema:
Körper in der Kunst und der Vergänglichkeit zu beschäftigen. Bei ihren Recherchen ist sie zwangsläufig auf Hieronymus Boschs Triptychon gestoßen. Die Farbpalette bei Bosch hat sie fasziniert und von „Innen aufgemacht“, wie sie treffend beschreibt. „Das war neu. Ich bin in Vielem eigentlich ein sehr reduzierter Mensch, aber innen sprudelt es. Das schaffe ich jetzt nach außen zu tragen.“
Wenn man ihre Skulpturen und Objekte von Weitem betrachtet, denkt man zunächst, oh wie lieblich und schön. Je näher man ihnen jedoch kommt, desto deutlicher wird, dass es sich keineswegs um leichte Kost handelt. Da sind Zungen, wie zu einem Salat drapiert, ein Teil einer Wirbelsäule, umschlungen von Adern und Nervensträngen, Zellgewebe, das aussieht wie ein Kräutergarten. Das Innere wird nach außen gestülpt. Aber nichts davon ist auf Anhieb so, wie es scheint. Ihre Arbeiten sind üppig im Detail, bunt, verspielt, reich an Formen und niemals auf einen Blick erfassbar. Man muss sich beschäftigen, mit der Welt von Alice, tief eintauchen, um zu begreifen. „Ich würde mir wünschen, dass meine Arbeit den Menschen ermöglicht, über sich selbst zu sprechen und über ihr System nachzudenken.“ Das ist ihr größtes Anliegen als Künstlerin.
Natürlich würde sie sich freuen, ihre Werke eines Tages in einem Museum ausgestellt zu sehen, antwortet sie mir auf die Frage, wo sie sich in einigen Jahren sieht. Wichtiger noch ist ihr aber etwas Anderes: Jeder Mensch sollte Zugang zu Kunst haben. Besonders Kinder und Jugendliche liegen ihr am Herzen. Einmal die Woche kommen sozial benachteiligte Kinder zu ihr ins Atelier und dürfen dort kreativ sein. Soziales Engagement gehörte schon immer zu ihrem Leben dazu. Sie wünscht sich, „dass wir Menschen verstehen, Jeder ist ein Teil von diesem großen Ganzen, und Jeder hat die gleiche Berechtigung, egal aus welcher sozialen Schicht man kommt oder unter welchen Voraussetzungen jemand in diese Welt hineingeboren wird.“
Die obligatorische Frage zum Schluss, wie ihr idealer Tag aussieht, hat Alice im Grunde schon an anderer Stelle beantwortet. Dennoch kommt die Antwort ohne Umschweife: „Aufstehen, lesen, schreiben, zeichnen, am liebsten in einem Café, morgens Zeit für mich haben, für das eigene Studium und die Integration des Aufgenommenen, erst gegen elf, halb zwölf ins Atelier und arbeiten, bis abends um neun, zwischendurch eine kleine Pause.“ Der Familienalltag ließe das zwar noch nicht zu, aber sie sei überzeugt, dass es eines Tages so kommen wird.
Wie sie so vor mir sitzt, die Künstlerin Alice Kammerlander, mit der ihr eigenen Klarheit und seelischen Tiefe, das Leben, ihre Arbeit, die Natur, den menschlichen Körper, die Welt, Sichtbares und Unsichtbares zu erfassen, habe ich da keinerlei Zweifel.
Das Gespräch führte Jeanette Ghyczy | SALON DE GICZ, Juli 2023
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Laufende Ausstellung:
Ceramic Art Space Gruppenausstellung Dienstag bis Freitag: 11:00 Uhr bis 18:00 Uhr Samstag: 11:00 Uhr bis 17:00 Uhr
Kohlmarkt 10, 1010 Wien
Kommende Ausstellungen:
Emmanuel Walderdorff Galerie zu Gast im Salzkammergut Gruppenausstellung
Eröffnung: Sonntag, der 30. Juli 2023, 11-16 Uhr Ausstellungsdauer: bis 06.08. 2023, jeweils von 17 - 19 Uhr und auf Vereinbarung
Aurachmühl 3 / 4813 Neukirchen / Österreich
juxtapose Franz Josef Altenburg : Pedro Boese Keramik : Grafik
Frank Herzog Skulptur : Skulptur Dénesh Ghyczy : Alice Kammerlander Malerei : Keramik Annette Philp Film : FilmNächste
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Schlumberger Artfloor "Das was du siehst, ist nicht das, was ich fühle." Einzelausstellung
Vernissage: 12.10.2023 Ausstellungsdauer: 13.10.-26.10.2023 jeweils Freitag, Samstag 11-18h und nach Vereinbarung
Heiligenstädter Str. 39, 1190 Wien
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